Predigt über 1. Petr. 5, 1-4 an Misericordias Domini, 23.4.2023 - Pastorin Antje Stümke
Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater und unserem Herrn Jesus Christus. Amen.
Liebe Gemeinde,
Misericordias Domini – die Barmherzigkeit des Herrn. Passend zu diesem Sonntagsnamen haben wir biblische Texte gehört und gebetet, die uns Gott als einen guten Hirten vorstellen. Zuerst den vertrauten Psalm 23, den viele unter uns auswendig können. Und im Evangelium hörten wir, dass Jesus sich als den guten Hirten bezeichnet, der uns vor dem Wolf beschützt und sogar sein Leben für uns aufs Spiel setzt. Dieser zweite Sonntag nach Ostern will erklären, dass die Barmherzigkeit Gottes, die sich in Jesu Menschwerdung offenbarte, auch nach dessen Tod und Auferweckung gültig bleibt. Im Psalm und in Jesu Rede ist Gott bzw. Jesus der Hirte, dem wir Menschen unser Vertrauen schenken können, weil er mit Güte und Liebe für uns sorgt. Zugleich aber sind wir in der Nachfolge Jesu dazu aufgerufen, einander zu Hirten zu werden und füreinander zu sorgen. Unser Predigtwort, das wir als Epistel hörten, richtet sich darum an Menschen, sogenannte Älteste, deren besondere Aufgabe es ist, die Herde Gottes zu weiden:
Die Ältesten unter euch ermahne ich …: Weidet die Herde Gottes, die euch anbefohlen ist, und achtet auf sie. Nicht gezwungen, sondern freiwillig, wie es Gott gefällt. Nicht um schändlichen Gewinns willen, sondern von Herzensgrund. Nicht als solche, die über die Gemeinden herrschen, sondern als Vorbilder der Herde. So werdet ihr, wenn erscheinen wird der Erzhirte, die unverwelkte Krone der Herrlichkeit empfangen.
Wer sind diese Ältesten? Es sind die, die eine Gemeinde leiten: Pastorinnen und Pastoren, denn das lateinische Wort Pastor bedeutet Hirte. Menschen, die eine Gemeindegruppe leiten. Und Menschen, die in den Kirchengemeinderat gewählt wurden. In meiner Kindheit wurden sie Kirchenälteste genannt. Sie werden also hier angesprochen und ermahnt. Nun gucke ich mich mal in der Heiligen-Geist-Kirche um, ob ich unter uns solche entdecke, zu denen ich sprechen kann. Dürfen alle anderen jetzt in den Kirchenschlaf fallen, weil sie diese Predigt gar nicht betrifft? Können Sie, könnt ihr euch jetzt entspannt zurücklehnen?
Nein, denn Sie sind im Bild unseres Predigtwortes die Herde, die geweidet werden soll. Sie sind also Teil des Bildes und damit Teil des Beziehungsgefüges. Wenn ich Eltern ansprechen würde, ginge es immer um das Wohl des Kindes. Wenn ich Lehrerinnen ermahnte, ginge es um deren Schüler. Und bei den Hirten geht es zugleich um Sie und euch. Es ist Ihnen nicht egal, wie Sie geweidet werden. Sie wollen nicht auf dürren Flecken mühsam nach den letzten Grashalmen suchen müssen. Sie wollen nicht hungrig und durstig bleiben, sondern gut versorgt sein: In Gottesdienst und Seelsorge, in Jugendarbeit und Kirchenmusik, in unseren diakonischen Einrichtungen und in der Verantwortung für Geld und Gebäude. Sie wollen also, dass die Menschen, die in unserer Kirchengemeinde eine leitende Aufgabe wahrnehmen, diese auch gut erfüllen. Unser Predigtwort nennt darum drei Kriterien, wie in einer Kirchengemeinde geleitet werden soll: Nicht gezwungen, sondern freiwillig, wie es Gott gefällt. Nicht um schändlichen Gewinns willen, sondern von Herzensgrund. Nicht als solche, die über die Gemeinden herrschen, sondern als Vorbilder der Herde.
Mit diesen Kriterien werden die Gefahren benannt, die einem leitenden Amt immer innewohnen. In einer Kirchengemeinde ebenso wie im politischen Bereich oder in einem Wirtschaftsunternehmen. Wenn mich an einer Aufgabe nur das Geld lockt, sollte ich es sein lassen, denn dann mache ich es nicht von Herzensgrund und nicht den Menschen zum Wohl. Zu Recht prangern wir darum die Gewissenlosigkeit von Managern ein, die fette Boni kassieren, während der Steuerzahler für die Verluste aufkommen muss. Und wenn mich an einer Aufgabe Macht und Ansehen locken, wenn ich mir damit Geltung verschaffen will, dann sollte ich es ebenso sein lassen, weil ich so niemals ein Vorbild im Sinne Christi sein werde. Denn dann geht es mir allein um mich und mein Prestige, aber nicht um die, für die ich Verantwortung trage. Auch für ein solches Verhalten, wo Amtsinhaber trotz Fehlverhaltens und Amtsmissbrauchs an ihren Posten kleben, finden wir in unserer Gesellschaft genügend Beispiele. Unser Predigtwort nennt noch eine dritte Gefahr, der Menschen in leitenden Aufgaben erliegen können: Wenn für mich selbst nichts herausspringt, weder Geld noch Macht, dann fehlt mir die Motivation. Dann mache ich halt meinen Job, aber lustlos und lieblos. Und irgendwann schmeiße ich hin. Liegt hierin, also in fehlenden Anreizen der Grund, dass wir in Kirche und Gesellschaft kaum noch Menschen finden, die sich in einem Ehrenamt engagieren? Schließlich ist ein Hirtenamt wahrlich kein Zuckerschlecken, wenn wir leitende Aufgaben im Sinne Jesu und zum Wohl der Menschen ausüben. Es ist vielmehr echte Arbeit, es kostet Zeit und Mühe. Eine Sitzung des Kirchengemeinderates ist selten vor 23 Uhr zu Ende. Die Leiterinnen unserer Kindergärten und der Diakoniestation schreiben ihre Überstunden gar nicht mehr auf. Und wer ehrenamtlich einen Gemeindekreis leitet oder für die Schöpfkelle Lebensmittel bei den Discountern abholt, bezahlt oft das Spritgeld aus eigener Tasche. Was also motiviert Menschen, sich dennoch in den Dienst einer guten Sache zu stellen und ein Hirtenamt auszuüben?
Als Antwort entführe ich Sie kurz in die Allgäuer Alpen, wo ich einmal einen Hirten kennengelernt habe. Also einen Mann, der diesen Beruf wirklich ausübt. Seine Aufgabe ist es, während des Sommers auf junge Kühe aufzupassen, die im Frühling von den Bauern auf die Berge getrieben werden, weil ihre Milch in der Höhenluft besonders viel Rahm ansetzt – die sprichwörtliche Alpenmilch. Weil die Kühe sich dort frei bewegen, bezahlen die Bauern gemeinsam einen Hirten, der dann in einer Almhütte wohnt. Die Kühe sind gekennzeichnet, und der Hirte muss täglich durch Almwiesen und auf Gipfel wandern und auf einer Liste abhaken, welche er gefunden hat. Er muss sie jeden Tag alle gefunden haben, erst danach darf er Feierabend machen. Bei jedem Wetter muss er hinaus, und mancher Weg in den Bergen birgt durchaus Gefahren. Was motiviert diesen Mann, jeden Sommer mit seiner Familie auf eine Hütte zu ziehen und sich diesen Gefahren auszusetzen? Das Geld kann es nicht sein. Die Bauern sorgen zwar für seinen Lebensunterhalt, aber reich wird man in diesem Beruf nicht. Macht und Ansehen gewinnt ein Hirte ebenso wenig. Vielleicht schafft er es mal in einen Fernsehbeitrag in einer Alpendokumentation, aber das ist auch alles. Dennoch macht er den Job jedes Jahr wieder. Was also treibt ihn an? Er hat Spaß an seiner Arbeit. Es macht ihm Freude, in der Freiheit und Schönheit der Berge zu leben. Vielleicht fühlt er sich dort seinem Schöpfer sehr nah. Mit Sicherheit aber gewinnt er den Dank und die Anerkennung der Bauern, für die er arbeitet und die auf ihn angewiesen sind und die ihm ihren Besitz anvertrauen. Persönliche Freude sowie Vertrauen und Dank der anderen reichen ihm an Motivation, um seinen schweren Beruf mit Lust und Liebe zu erfüllen.
Das gilt auch für unsere „Hirten“ in Kirche und Politik. Sie haben wirklich Freude an ihrem Engagement für andere, was ein wichtiger Ansporn ist. Das andere aber ist ebenso wichtig und sollte uns als „Herde“ zu denken geben. Wieviel Dank und Anerkennung schenken wir eigentlich denen, die sich für uns ehrenamtlich engagieren oder die in ihrem Beruf für das Wohl von Menschen arbeiten? Bringen wir ihnen Vertrauen entgegen? Das klingt so selbstverständlich, ist es aber keineswegs. Denn meist liegen uns Meckern und Jammern näher als das anerkennende Lob. Wir beschweren uns, oder wir lästern und tratschen. Natürlich dürfen wir nachfragen, schließlich sind wir keine dummen Schafe, die ihren Hirten blind und ergeben hinterher laufen. Wir dürfen auch Kritik üben, weil wir mündige Mitglieder der Kirchengemeinde und des politischen Gemeinwesens sind. Und weil es in einer Demokratie dazu gehört, dass nicht die einen über die anderen herrschen, sondern dass wir einander dienen. Aber das darf nicht dazu führen, dass wir denen, die in leitenden Ämtern Verantwortung ausüben, jede Anerkennung absprechen. Schließlich machen sie es, wenn sie gute Hirten sind, nicht für sich selbst. Der Hirte im Allgäu arbeitet für die Kühe. Als Pastorin ist es meine Aufgabe, für Sie da zu sein, als Seelsorgerin besuche ich alte Menschen in den Heimen. Und die gewählten Mitglieder in kirchlichen oder politischen Gremien setzen sich für das Allgemeinwohl ein. Ihnen gebührt darum zuerst Vertrauen und dann Dankbarkeit für ihren Einsatz. In einer Demokratie muss ich nämlich damit leben, dass nicht jede Entscheidung eines Kirchengemeinderates oder einer Regierung meinen persönlichen Beifall findet. Wenn ich es anders möchte, steht es mir doch frei, mich selbst zur Wahl zu stellen. Erst wenn ein „Hirte“ den Gefahren eines Amtes erliegt, wenn er seine Aufgabe vernachlässigt, wenn er sich bereichert oder das Amt missbraucht, ist es an uns als „Herde“, abzumahnen oder abzuwählen. Was wir aber in unserer Gesellschaft, vor allem in sozialen Medien, derzeit erleben, ist Hass und Hetze, sowie ein Politiker eine unpopuläre Entscheidung trifft. Auch in unserer Kirchengemeinde haben Gerüchte die Runde gemacht, die so nicht stimmten, als gewisse Beschlüsse des Kirchengemeinderates falsch verstanden wurden.
Wenn „Hirten“, die sich beruflich oder ehrenamtlich in leitenden Aufgaben einsetzen, mit unsachlichen und fiesen Schmähungen beschimpft werden oder wenn sie merken, dass die „Herde“ sich gar keine Mühe macht, die Entscheidungen zu verstehen und nachzuvollziehen, macht das etwas mit ihrer Motivation. Dann verlieren sie die Freude an ihrem Engagement. Dann fragt sich mancher, warum er sich das eigentlich antut und wozu er sich für andere einsetzt, wenn doch nur Undank der Welt Lohn ist. Das ginge uns genauso. Darum richtet sich unser Bibelwort nicht nur an die „Hirten“, und ich danke euch, liebe „Herde“, dass ihr nicht abgeschaltet, sondern mir zugehört habt. Lasst uns also miteinander das Engagement unserer Ältesten achten und ehren, ihnen Dank und Respekt entgegen bringen und ihre Lust und Liebe dadurch fördern. Schließlich brauchen wir diejenigen, die Verantwortung für andere übernehmen wollen. Wir brauchen diejenigen, die bereit sind, in der Nachfolge Jesu die Herde weiden. Und sie brauchen unseren Dank und unsere Anerkennung und dazu unser Vertrauen und unser Gebet.
Amen.
Predigt über Gen 32,23-33 an Quasimodogeniti, 16.4.2023 - Pastorin Antje Stümke
Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater und unserem Herrn JC. Amen.
Liebe Gemeinde,
Quasimodogeniti – wie die neu geborenen Kinder. Der Name unseres Sonntags ermuntert uns dazu, wie Kinder zu glauben. Wie aber glauben Kinder? Ein Kinderglaube zeichnet sich nicht zuerst dadurch aus, dass Kindern die Vorstellung eines Vatergottes mit gütigem Gesicht, weißem Haar und Rauschebart nahegebracht wird. Auch nicht dadurch, dass es Kindern leichter fällt, Dinge zu glauben, die uns Erwachsenen unwahrscheinlich vorkommen. Sondern ein Kinderglaube zeichnet sich zuerst durch unbedingtes Vertrauen aus. Ein Kind hat gar keine andere Möglichkeit, als den Menschen zu vertrauen, die für dieses Kind sorgen. Ein bekannter Theologe hat darum gesagt: Ein kleines Kind glaubt an die Mutter. Das Kind vertraut darauf, dass die Mutter ihm Liebe, Zuwendung und Nahrung schenkt. Es vertraut darauf ohne Furcht und Zweifel. Denn das kleine Kind erlebt nichts anderes, als dass Mutter und Vater treu und verlässlich für es sorgen und ihm Geborgenheit schenken. Je älter wir aber werden, desto mehr erleben wir Enttäuschungen. Das kindliche Urvertrauen schwindet, weil dunkle und grausame Erfahrungen uns die Sicherheit der Wiege und den Trost der Elternliebe rauben. Wir werden selbständig, stehen auf eigenen Beinen, machen eigene Erfahrungen und treffen eigene Entscheidungen. All das beeinflusst auch unseren Glauben an Gott. Der Kinderglaube, der uns nach dem Nachtgebet tief und selig hat schlafen lassen und der uns noch durch die Zeit in Kindergottesdienst und Grundschule hindurch tragen konnte, bekommt irgendwann einen Riss. Der Zweifel tritt in unser Leben. Wir glauben nicht mehr alles, was man uns erzählt. Wir wollen vielmehr wissen und durch nachvollziehbare Erklärungen überzeugt werden. So wie Thomas, der das Wunder der Auferstehung Jesu nicht glauben kann, bis er den Beweis dafür in den Händen hält. Unser erwachsenes Leben ist durchzogen von Zweifeln, von Fragen, von Krisen. Und unser Glaube ist geprägt durch Kämpfe, durch Auseinandersetzungen mit Gott, dem wir aufgrund unserer Lebenserfahrungen nicht mehr so vorbehaltlos vertrauen können wie seinerzeit als neu geborene Kinder.
Die Bibellesungen des Sonntags Quasimodogeniti wollen darum Mut machen, mit den Zweifeln und Sorgen, die uns als Erwachsene plagen, dennoch weiter an Gott festzuhalten und an sein Dasein für uns zu glauben. In der Epistellesung haben wir gehört, dass der Weg zur Seligkeit als dem Ziel des Glaubens durch Trauer und Anfechtung führt. Und im Evangelium wird uns von Thomas erzählt, der seinen Zweifel in der direkten Begegnung mit dem auferstandenen Jesus überwindet. Solch eine Überwindung aber geschieht nicht einmal im Leben, sondern immer wieder. Dafür steht eine eigentümliche Geschichte ein, die unser Predigtwort ist. Eine Geschichte, die wir so nur einmal in der Bibel finden und die dennoch Thema aller biblischen Geschichten und ebenso Thema unseres Lebens und Glaubens ist. Es ist eine bildhafte Geschichte, in der einer mit Gott ringt. Nicht nur in Gedanken und Gefühlen, sondern die Geschichte wird so erzählt, dass da einer wirklich körperlich mit Gott kämpft.
Jakob stand auf in der Nacht und nahm seine beiden Frauen und die beiden Mägde und seine elf Söhne und zog durch die Furt des Jabbok. Er nahm sie und führte sie durch den Fluss, sodass hinüberkam, was er hatte. Jakob aber blieb allein zurück. - Da rang einer mit ihm, bis die Morgenröte anbrach. Und als er sah, dass er ihn nicht übermochte, rührte er an das Gelenk seiner Hüfte, und das Gelenk der Hüfte Jakobs wurde über dem Ringen mit ihm verrenkt. Und er sprach: Lass mich gehen, denn die Morgenröte bricht an. Aber Jakob antwortete: Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn. Er sprach: Wie heißt du? Er antwortete: Jakob. Er sprach: Du sollst nicht mehr Jakob heißen, sondern Israel. Denn du hast mit Gott und mit Menschen gekämpft und hast gewonnen. Und Jakob fragte ihn und sprach: Sage doch, wie heißt du? Er aber sprach: Warum fragst du, wie ich heiße? Und er segnete ihn daselbst. – Und Jakob nannte die Stätte Pnuel: Denn ich habe Gott von Angesicht gesehen, und doch wurde mein Leben gerettet. Und als er an Pnuel vorüberkam, ging ihm die Sonne auf.
Jakob, einer der Erzväter des Volkes Israel, befindet sich auf einem schweren Weg. Nachdem er 20 Jahre in der Fremde bei seinem Schwiegervater Laban gedient, dort seine beiden Frauen Lea und Rahel geheiratet und elf Söhne gezeugt hat, will er mit seiner Familie und seinen Viehherden in das Land seiner Väter zurückkehren. Das aber heißt, dass er seinem Bruder Esau wieder begegnen muss, dem er seinerzeit zunächst das Erstgeburtsrecht abgeluchst und den er später um den väterlichen Segen betrogen hat. Seinem Bruder, von dem er annehmen muss, dass dieser ihn noch immer hasst. Und nun hat Jakob gehört, dass Esau ihm mit einer riesigen Menschenmenge entgegen kommt. Diese Übermacht wirkt bedrohlich, und Jakob hat große Angst. Denn er weiß, dass er schuldig an seinem Bruder geworden ist, und Jakob fürchtet, dass Esau ihm feindselig entgegen kommt, dass er sich am betrügerischen Bruder rächen und diesen vernichten will. In dieser Angst betet Jakob unmittelbar vor unserer Predigtgeschichte: Herr, errette mich von der Hand meines Bruders, von der Hand Esaus! Denn ich fürchte mich vor ihm, dass er komme und mich schlage.
In dieser Angst wird Jakob nachts von einem überfallen, mit dem er kämpfen muss. Nachts. Auch wir kennen es, dass uns Sorgen und Nöte besonders in der Nacht zu schaffen machen. Dass die Krisen, unter denen wir leiden, uns um den Schlaf bringen, und dass eine Schuld, die auf uns lastet, uns in der Dunkelheit umso mehr peinigt. So wie wir uns dann im Bett von der einen auf die andere Seite wälzen, so wälzt sich Jakob in seiner Angst beim Übergang über den Fluss Jabbok. Er wälzt sich mit einem, der mit ihm kämpft und von dem er sich überfallen fühlt. Und die beiden kämpfen miteinander die ganze Nacht hindurch bis zum Anbruch der Morgenröte. In echten Krisen ist es eben nicht mit einem Fingerschnipsen getan, und alle Not fällt von uns ab, sondern manches muss wirklich durchgerungen werden, um überwunden werden zu können.
Mit wem aber kämpft Jakob hier? Kämpft er mit Gott? Oder mit seiner Angst? Oder mit beiden? In glaube: Letzteres. Denn in echter Not unterscheiden wir das gar nicht. Wenn ich in eine Lebenskrise gerate, hadere ich doch sowohl mit diesem Schicksal als auch mit Gott. Ich hadere damit, wenn ich eine schwere Krankheit erleide, wenn ich meine Arbeit verliere und wenn mich ein geliebter Mensch enttäuscht oder verlässt. Und ich fühle mich in solchen Krisen zugleich von Gott bestraft. Ich hadere und klage Gott an: Was ich denn verbrochen habe, dass er mir dieses Leid aufbürdet. Angesichts von Krieg, Hunger und Elend gerate ich obendrein ins verzweifelte Grübeln, warum Gott Leid und Schuld zulässt und ob es überhaupt einen Gott geben kann. In einer Krise, die mich überfällt, ringe ich also zugleich mit Gott.
Wie Jakob in seiner großen Angst. Er ringt mit Gott die ganze Nacht hindurch. Und als die Morgenröte schon am Horizont langsam aufleuchtet, endet der Kampf in einem Gespräch. Er sprach: Lass mich gehen, denn die Morgenröte bricht an. Aber Jakob antwortete: Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn. Er sprach: Wie heißt du? Er antwortete: Jakob. Er sprach: Du sollst nicht mehr Jakob heißen, sondern Israel. Denn du hast mit Gott und mit Menschen gekämpft und hast gewonnen. Und Jakob fragte ihn und sprach: Sage doch, wie heißt du? Er aber sprach: Warum fragst du, wie ich heiße? Und er segnete ihn daselbst.
Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn. – Ein starker Satz. Und eine Glaubensaussage. Obwohl der nächtliche Kampf sicher anstrengend und kraftraubend gewesen ist, will Jakob nicht ablassen. Er hat mit seiner Angst und mit Gott gekämpft und will sich trotz seiner Angst und in seiner Angst weiter auf Gott verlassen. Er will ihm durch die Krise hindurch weiter vertrauen. Doch der, mit dem er gekämpft hat, will gehen. Nicht um ihn allein und im Stich zu lassen, sondern weil Gott dem Jakob nun zutraut, dass er seinen Weg furchtlos fortsetzen wird. Du hast mit Gott und mit Menschen gekämpft und hast gewonnen. Du hast deine Angst überwunden und kannst dich nun deinem Bruder und deiner Schuld stellen. Du kannst es nun wagen, den Herausforderungen und Zumutungen des Lebens zu begegnen. Darum erhält Jakob von Gott einen neuen Namen: Israel. - Das ist erst in zweiter Hinsicht der Name des Volkes, an dem Gott in besonderer Weise handeln wird. In erster Linie bedeutet Israel das, was in dieser Nacht geschehen ist. Übersetzt heißt Israel: Er kämpft mit Gott. Er ist ein Gotteskämpfer. Für sein selbständiges Leben im Glauben wird Jakob von Gott gesegnet. Aber den Gottesnamen erfährt er nicht. Denn Gott bleibt frei und unverfügbar. Er bleibt auch der rätselhafte Gott, der sich uns wieder entzieht, an den wir Fragen haben, an dem wir uns reiben, mit dem wir hadern und kämpfen. Aber er ist auch der Gott, der uns stärkt und segnet.
Die Geschichte mit Esau geht übrigens gut aus. Esau ist seinem Bruder in friedlicher Absicht entgegen gekommen, und er umarmt und küsst den Jakob zur Begrüßung. Er freut sich über das Wiedersehen und hat ihm vergeben. Das aber kann Jakob noch nicht wissen, als er sich nach dem nächtlichen Kampf auf den Weg macht. Doch er wagt seinen Weg zuversichtlich und getrost, weil er durch die Krise hindurch erfahren hat, dass Gott ihm auch in Angst und Schuld zur Seite steht.
Quasimodogeniti – wie die neu geborenen Kinder. Unser kindliches Urvertrauen hat zwar durch Zweifel und Nöte Risse bekommen, und wir schlafen nicht mehr selig und sorglos wie ein Säugling, sondern wälzen uns in manch nächtlichem Kampf mit Gott. Doch in diesem Ringen können wir erfahren, dass unser Gott treu ist und dass er uns segnet, auch wenn wir ihn nicht verstehen. In solchen Auseinandersetzungen stärken wir unseren Osterglauben. Unseren Glauben, dass Gott Jesus aus den Toten auferweckt und alle todbringenden Mächte, alle Angst und alle Schuld überwunden hat. Obwohl wir das Wunder der Auferstehung mit unserem modernen Bewusstsein eigentlich für unvorstellbar halten, lernen wir aus dem Glauben kleiner Kinder, worauf es im Glauben ankommt. Es geht nicht um ein Für-wahr-halten einer seltsamen Geschichte. Sondern es geht darum, Gott in allen Höhen und Tiefen, im Leben und im Sterben, zu vertrauen. Und darum, mit Gott das Leben mit allen Unwägbarkeiten zu wagen und unsere menschlichen Beziehungen im Vertrauen auf Gott zu gestalten. Amen.
Predigt über Lk 22, 47-53 an Okuli, 12.3.2023 - Pastorin Antje Stümke
Gnade sei mit uns und Friede von Gott, unserem Vater und unserem Herrn Jesus Christus. A.
Liebe Gemeinde!
Eine ausweglose Situation – die können wir uns sicher alle vorstellen! Und doch fragen wir in solchen Momenten nach dem Ausweg. „Da muss man doch etwas machen können!“, sagen wir, wenn uns ein Arzt erklärt, dass er bei dem fortgeschrittenen Stadium der Krankheit nichts mehr für uns tun, dass er uns vielmehr nur noch in der Schmerzlinderung unterstützen kann. - „Warum ist da keiner eingeschritten?“, fragen wir, wenn wir in den Nachrichten hören, dass ein Mensch mitten am Tag in einer belebten Straße verprügelt worden ist. „Warum ist der aus dem Gefängnis entlassen worden?“, fragen wir mit den Eltern der beiden ermordeten Jugendlichen im Zug. „Wie konnte das passieren?“, fragen wir nach dem furchtbaren Amokverbrechen in Hamburg. – Überall auf der Welt scheint die Lage ausweglos, verfahren und aus der Kontrolle geraten zu sein: Im furchtbaren Angriffskrieg Russlands gegen ein souveränes Land, dem so viele Menschen zum Opfer fallen. Im Chaos nach dem entsetzlichen Erdbeben in Syrien und der Türkei mit mehr als 50000 Toten. In der brutalen Niederschlagung von Protesten im Iran und anderswo. Und überall dort, wo Menschen wegen ihrer regimekritischen Äußerungen in Gefängnissen gefoltert und vergewaltigt werden. In all diesen ausweglosen Situationen müssen Menschen unvorstellbar leiden. Ebenso grausam hat Jesus gelitten, nachdem er gefangen genommen worden war. Bei seiner Gefangennahme ist auch er in eine zunächst ausweglose Lage geraten. Hört den Predigttext!
Als Jesus noch im Garten Getsemane mit seinen Jüngern redete, siehe, da kam eine Schar. Und einer von den Zwölfen, der mit dem Namen Judas, ging vor ihnen her und nahte sich zu Jesus, um ihn zu küssen. Jesus aber sprach zu ihm: Judas, verrätst du den Menschensohn mit einem Kuss? Als aber die, die um ihn waren, sahen, was geschehen würde, sprachen sie: Herr, sollen wir mit dem Schwert dreinschlagen? Und einer von ihnen schlug nach dem Knecht des Hohenpriesters und hieb ihm sein rechtes Ohr ab. Da sprach Jesus: Lasst ab! Nicht weiter! Und er rührte sein Ohr an und heilte ihn. Dann sprach Jesus zu den Hohenpriestern und Hauptleuten des Tempels und den Ältesten, die zu ihm hergekommen waren: Ihr seid wie gegen einen Räuber mit Schwertern und mit Stangen ausgezogen. Ich bin täglich bei euch im Tempel gewesen und ihr habt nicht Hand an mich gelegt. Aber dies ist eure Stunde und die Macht der Finsternis.
Da muss man doch etwas machen können! Da muss doch einer einschreiten! – So dachten auch die Jünger Jesu in dieser ausweglosen Situation, als sie die Knechte der Hohenpriester kommen sahen: So viele waren das, und sie trugen schwere Waffen! Sie dagegen waren nur so wenige, die Jesus an diesem Abend nach dem gemeinsamen Mahl noch in den Garten Getsemane begleitet hatten! Dazu mussten sie fassungslos und erbittert erleben, dass einer der ihren, Judas nämlich, mit den Hohenpriestern gemeinsame Sache machte und dass er Jesus an sie verraten hatte! Ohnmächtig waren die Jünger in ihrem Zorn und sprachlos in ihrem Entsetzen! Aber noch hatten sie eine Chance, eine kleine zwar, doch die wollten sie nutzen: Einer von ihnen hatte ein Schwert! Kampflos wollten sie Jesus nicht den Häschern überlassen, darum fragen sie: Herr, sollen wir mit dem Schwert dreinschlagen? Und einer von ihnen wartet Jesu Antwort nicht ab, sondern schlägt zu und schneidet einem Knecht das Ohr ab.
Ist jener Jünger nicht im Recht gewesen? Schließlich wollten die Häscher Jesus zu Unrecht gefangen nehmen und töten! Denn was hatte dieser verbrochen? Außerdem war Jesus allein gegen so viele und völlig wehrlos. War es da nicht ein Gebot der Nothilfe und Zivilcourage, dass dieser Jünger sich für Jesus eingesetzt hat? Aber Jesus gebietet ihm Einhalt: Lasst ab! Nicht weiter! – Warum? Eine einfache und plausible Erklärung wäre die: Jesus hat die Sinnlosigkeit dieser gut gemeinten Hilfe erkannt. Die Lage war wirklich ausweglos, und jede Gewalt von Seiten der Jünger hätte alles nur noch verschlimmert. Die Häscher hätten sich gewehrt, der Konflikt hätte sich rasant weiter entwickelt. Die Situation wäre in einer Gewaltspirale eskaliert, und die schwer bewaffneten Soldaten hätten die Jünger niedergestreckt. Darum sagt Jesus: Lasst ab! Nicht weiter!
Jesus ist also in dieser ausweglosen Situation der einzige, der den Überblick behält. Ausgerechnet er, dem die ganze Aktion gilt und der darum doch am meisten zu befürchten hat! Aber er gebietet nicht nur seinen Jüngern Einhalt, sondern mehr noch: Er heilt den verletzten Häscher. Auch jetzt noch verhält Jesus sich, wie er immer gewesen ist: Mit Liebe wendet er sich dem zu, der Hilfe braucht. Immer hat Jesus den Menschen den Vorrang gegeben. Immer hat er sich Zeit genommen, wenn einer in Not war. Und auch jetzt ist ihm der verletzte Häscher wichtiger als sein eigenes Leben. – Hätten wir uns ebenso verhalten? Wohl kaum. So selbstlos und barmherzig handelt allein Jesus. Sogar bei seiner Gefangennahme, sogar als es ihm an den Kragen geht, hört Jesus nicht auf zu lieben! Und in dieser Liebe liegt der einzig mögliche Ausweg in einer ausweglosen Situation. Jesus bleibt sich selbst und den Geboten Gottes treu. Liebt eure Feinde! Das hat Jesus gepredigt, und danach hat er gelebt. Er liebt nicht nur die, die zu ihm stehen, sondern auch die, die sich ihm entgegen stellen. Und denen wendet Jesus sich nun zu.
Zuerst spricht er Judas an: Verrätst du den Menschensohn mit einem Kuss? Judas, warum gerade so? Der Kuss ist doch ein Zeichen von Freundschaft und Liebe! Es macht mich traurig, dass du unsere Freundschaft auf diese Weise verrätst.- Ja, traurig scheint mir Jesus zu sein, nicht zornig, obwohl er doch allen Grund dazu hätte. Er bestraft auch nicht. Mit seiner Traurigkeit konfrontiert er vielmehr seinen Verräter und hält gleichzeitig an ihm fest: Judas, deine Tat verabscheue ich, aber als Mensch bleibst du für mich so wertvoll, dass ich weiter mit dir rede! – Und wieder können wir uns fragen, ob wir ebenso handeln würden. Könnten wir so ehrlich und zugleich so großherzig sein? Könnten wir noch so ruhig und besonnen mit einem reden, der unsere Freundschaft verraten oder zu seinem Vorteil benutzt hat? So einer wäre doch Luft für uns! Mit so einem wollten wir nichts mehr zu tun haben.
Jesus aber will mit Judas noch zu tun haben! Er redet mit ihm und baut dem Sünder eine Brücke der Vergebung und Versöhnung. Ebenso redet er mit den Hohenpriestern und ihren Häschern. Er sagt ihnen schlicht, was sie tun, und damit führt er ihnen ihr unrechtes Tun vor Augen: Ihr seid wie gegen einen Räuber mit Schwertern und mit Stangen ausgezogen. Ich bin täglich bei euch im Tempel gewesen und ihr habt nicht Hand an mich gelegt. – Ihr behandelt mich wie einen Verbrecher. Dabei wisst ihr genau, dass ich mir nichts habe zuschulden kommen lassen. Jeden Tag habt ihr mir im Tempel zugehört. Darum wisst ihr, dass ich den Willen Gottes verkündige. Und ihr wisst ebenso, dass ihr im Unrecht seid!
Auch sie, die seine Peiniger werden, sind für Jesus nicht einfach Luft. Sie sind es wert, dass er mit ihnen redet, auch wenn er verurteilt, was sie vorhaben. In der ausweglosen Situation seiner Gefangennahme bleibt Jesus sich also selbst treu. Alles, was er tut und sagt, speist sich aus seiner grenzenlosen Liebe: Seine Jünger rettet er vor einem sinnlosen Blutvergießen, den Verletzten heilt er und sowohl Judas als auch seinen Peinigern tritt er entschlossen entgegen. Jesus bleibt souverän – er als einziger. Dennoch scheinen die anderen zu gewinnen. Jesus selbst sagt ihnen: Dies ist eure Stunde und die Macht der Finsternis.
Hat also die Macht der Finsternis, haben Unrecht und Gewalt gesiegt? Ist die Macht der Finsternis doch größer als die Macht Gottes, die sich in Jesus offenbart? Erleidet Gott also in der Auseinandersetzung mit dem Bösen eine Niederlage nach der anderen? – Wenn wir an die Beispiele auswegloser Situationen denken, die ich zu Beginn der Predigt genannt habe, sieht es so aus. Das Böse scheint zu gewinnen – immer wieder. Immer wieder müssen wir entsetzt und fassungslos zusehen, zu welchen Grausamkeiten Menschen fähig sind und mit welcher Arroganz Autokraten und Tyrannen über Leichen gehen. Immer wieder sind wir ohnmächtig, hilflos und ausgeliefert, wenn die Macht der Finsternis alles zerstört. Sogar Jesus scheint der Macht des Bösen machtlos ausgeliefert zu sein.
Andererseits aber ist Jesus der einzige, der bei seiner Gefangennahme den Überblick behält und der wahrhaft frei und souverän handelt. Der einzige, der sich von dieser ausweglosen Situation nicht beeindrucken lässt. Der einzige, der sich nicht in die Spirale von Gewalt und Unbarmherzigkeit verstrickt. Der einzige, der Liebe übt, wo man sich hasst. Darum ist und bleibt Jesus auch jetzt der Sohn Gottes. Bei seiner Gefangennahme zeigt Jesus, dass er wirklich bis zum letzten bedingungslos liebt. Und damit zeigt er den Hohenpriestern und ihren Häschern ebenso wie allen Tyrannen und Terroristen der Weltgeschichte: Ihr könnt mich zwar wie einen Räuber abführen. Ihr könnt mich und alle Geschöpfe Gottes foltern und töten. Aber niemals werdet ihr die Liebe Gottes töten können. Die ist größer und mächtiger als eure Gewalt, die ist größer und mächtiger als das Böse, das ihr mir antun wollt.
Darum siegt die Liebe, auch wenn das Böse grausam und mächtig bleibt. Denn in seiner Liebe hat der Sohn Gottes sich nicht unterkriegen lassen. In seiner Liebe ist er sich treu geblieben – bis zum Tod am Kreuz. Und in seiner Liebe ist er uns verbunden geblieben – bis heute. Zwar leiden wir weiterhin unter Schmerzen und Grausamkeiten. Aber vom Kreuz herab verbindet sich der leidende Gottessohn mit uns. Wie er den verletzten Häscher heilt, so schenkt er uns seine grenzenlose Liebe. Wie er Judas vergibt, so vergibt er auch uns unsere Schuld. So mächtig das Böse auch ist, es kann der Liebe nichts anhaben und es kann die Liebe nicht zerstören. Die Liebe allein widersteht dem Bösen – und sie entwaffnet das Böse! Es ist ein römischer Hauptmann, der unter dem Kreuz erkennt: Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen! Es war ein raffgieriger und unbarmherziger Zöllner, der umkehrte und seinen Reichtum unter den Armen verteilte. Wir können darum den Geschichten vom Bösen Geschichten entgegen setzen, wie die Liebe Gottes Menschen bewegt und verändert hat. Und wir können uns selbst von Gott zur Einsicht und Umkehr befreien lassen! So siegt die Liebe Gottes über die Macht der Finsternis.
Amen.
Predigt über Jes 55,6-13 an Sexagesimä, 12.2.2023 - Pastorin Antje Stümke
Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater und unserem Herrn Jesus Christus. A.
Liebe Gemeinde,
Worte können eine große Bedeutung haben. Mit Worten verständigen wir uns, mit Worten streiten wir uns und mit Worten sprechen wir uns aus. Mit Worten gestalten wir unsere Beziehungen. Mit klug oder unbedacht gewählten Worten bestimmen wir die Atmosphäre eines Gesprächs, mit unseren Worten können wir ein heilsames oder ein vergiftetes Klima schaffen. Worte haben also eine Wirkung, es sind nicht einfach leere Worte, die wir einander sagen. Worte können uns beglücken oder enttäuschen, je nachdem, ob es gute oder schlechte Worte sind. Ein gutes Wort ist beispielsweise das Versprechen: „Ich gebe dir mein Wort darauf! Du kannst dich auf mich verlassen!“ Gute Worte sind auch Worte der Anteilnahme: „Ich denke an dich! – Ich drücke dir die Daumen! – Ich bete für dich!“ Oder Worte der Anerkennung: „Du bist ein echter Freund! – Du bist die beste Mutter der Welt! – Du bist ein Schatz!“ Und erst recht das größte Wort von allen: „Ich liebe dich!“ – Worte dieser guten Art gehen nicht ins Leere, sondern sie üben eine Wirkung auf uns aus. Sie wecken in uns Freude oder Stolz, sie können uns trösten und Hoffnung schenken. Umgekehrt wissen wir aber auch von Worten, die alles zerstören können. Von bösen Worten, die uns herausgerutscht sind und die eine Situation eskalieren ließen. Von erbittertem Streit, als ein Wort das andere gab und am Ende gar nichts mehr ging. Oder wir wissen von Worten, die uns vor den Kopf stoßen und durch die für uns eine Welt zusammenbricht. So ein niederschmetterndes Wort kann die Diagnose eines Arztes sein oder die Standpauke einer Lehrerin, die dich vor der ganzen Klasse herunterputzt. Worte dieser schlechten Art haben eine ebenso große Wirkung wie die guten Worte, und sie vermitteln uns das Gefühl: Mit mir ist nichts los. Ich bin nichts wert.
Was für ein Wort ist nun das Wort Gottes, um das es an diesem Sonntag ja geht? Sicher kein schlechtes und zerstörerisches Wort. Zwar haben wir manche Frage an Gott, weil er uns auch böse Erlebnisse zumutet, weil er das furchtbare Erdbeben mit den Tausenden Toten nicht verhindert hat und offenbar auch kein Machtwort gegen gewissenslose Kriegsherren und Autokraten sprechen kann. Trotz dieser Fragen und Enttäuschungen über Gott erwarten wir es aber doch von ihm, dass er uns gute Worte sagt. Worte, die uns stärken und trösten. Worte, wie sie der Prophet, den wir den zweiten Jesaja nennen, von Gott gehört und an sein Volk weiter gegeben hat.
Sucht den Herrn, solange er zu finden ist. Ruft ihn an, solange er nahe ist. Der Gottlose lasse von seinem Weg und der Übeltäter von seinen Gedanken und bekehre sich zum Herrn, so wird er sich seiner erbarmen, und zu unserem Gott, denn bei ihm ist viel Vergebung. Denn meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und eure Wege sind nicht meine Wege, spricht der Herr. Sondern so viel der Himmel höher ist als die Erde, so sind auch meine Wege höher als eure Wege und meine Gedanken als eure Gedanken. Denn so wie der Schnee und Regen vom Himmel fällt und nicht wieder dahin zurückkehrt, sondern feuchtet die Erde und macht sie fruchtbar und lässt wachsen, dass sie gibt Samen zu säen und Brot zu essen, so soll das Wort, das aus meinem Mund geht, auch sein: Es wird nicht wieder leer zu mir zurückkommen, sondern wird tun, was mir gefällt, und ihm wird gelingen, wozu ich es sende. Denn ihr sollt in Freuden ausziehen und im Frieden geleitet werden. Berge und Hügel sollen vor euch her frohlocken mit Jauchzen und alle Bäume auf dem Felde in die Hände klatschen. Es sollen Zypressen statt Dornen wachsen und Myrten statt Nesseln. Und dem Herrn soll es zum Ruhm geschehen und zum ewigen Zeichen, das nicht vergehen wird.
Hier verspricht Gott uns, dass sein Wort ein gutes Wort ist. Ein Wort, das nicht leer zurückkommt, sondern das unter uns Wirkung zeigt: Mein Wort soll tun, was mir gefällt, und ihm wird gelingen, wozu ich es sende. Schon Gottes erstes Wort, sein Schöpfungswort, hatte diese Macht. Als Gott sprach: Es werde Licht!, wurde Licht. Und diesem seinem ersten Wort ist Gott treu geblieben, wie es der Prophet mit dem Vergleich aus der Natur verdeutlicht. Das Wort Gottes ist wie Regen und Schnee, die die Erde feuchten und fruchtbar machen, so dass Mensch und Tier Nahrung finden. Und Regen und Schnee können selbst Wüsten zum Blühen bringen: Es sollen Zypressen statt Dornen wachsen und Myrten statt Nesseln.
Vor 2500 Jahren haben sich die Menschen durch den Propheten daran erinnern lassen, welch große Macht Gottes Wort hat. Ebenso können wir erfahren, wie gut uns Gottes Wort tut. Gerade in Durststrecken, Krisen und Katastrophen strömt Gottes Wort wie Regen in unser Haus, in unsere Familie, in unsere Herzen und Seelen. Mein Wort soll tun, was mir gefällt, und ihm wird gelingen, wozu ich es sende. Und die Saat geht auf: Traurige werden getröstet, und Hoffnung keimt auf mitten in der Verzweiflung. Die Rettungskräfte in der Türkei jubeln über jeden Menschen, den sie lebend aus den Trümmern bergen können. So furchtbar und grauenvoll die Situation auch ist, für einen Moment lösen sich Angst und Verzweiflung in Freude und Dankbarkeit auf. Ja, in allem was uns bedroht und zu Boden drückt, werden wir zugleich durch Gottes Hilfe aufgerichtet. Selbst da, wo Hass uns voneinander entfremdet hat, können wir uns von Gott zur Versöhnung untereinander befreien lassen, wenn die Zeit dafür da ist. In der Ukraine ist es dafür freilich noch zu früh. Der brutale Angriffskrieg hat die Seelen so verhärtet, dass auch hierzulande die Geflüchteten aus der Ukraine nicht mit Russen zusammen in der orthodoxen Kirche in Hamburg Weihnachten feiern wollten. Aber es gibt Beispiele gelingender Versöhnungsarbeit aus Ländern, in denen vor einigen Jahren noch Krieg geherrscht hat, z.B. aus Ruanda. Und es gibt NGOs, die ihre Arbeit auch mitten in Kriegsgebieten mutig weiter durchführen, oder Lehrerinnen, die in Afghanistan in versteckten Schulen heimlich weiter Mädchen unterrichten. Mein Wort soll tun, was mir gefällt, und ihm wird gelingen, wozu ich es sende. Denn ihr sollt in Freuden ausziehen und im Frieden geleitet werden. Es sollen Zypressen statt Dornen wachsen und Myrten statt Nesseln.
So hat es Gott gemeint, als er uns sein Wort gegeben hat, und auf dieses Wort Gottes können wir uns verlassen, es ist kein leeres Gerede. Allerdings können wir das Wort Gottes auch ignorieren und das Gegenteil von dem tun, was er uns gesagt hat, wie wir es ja leider dauernd erleben. Menschen, auch ich selbst, werden schuldig an Gott und aneinander. Darum lässt Gott uns durch seinen Propheten sagen: Sucht den Herrn, solange er zu finden ist. Ruft ihn an, solange er nahe ist. Der Gottlose lasse von seinem Weg und der Übeltäter von seinen Gedanken und bekehre sich zum Herrn. – Weil es überall und zu allen Zeiten solche Übeltäter gibt, hat Gott uns seine Gebote gegeben. Gute Worte, die bewirken sollen, dass sowohl unser persönliches als auch unser gemeinsames Leben gelingt und wir miteinander Frieden haben. Und obwohl wir die Gebote missachten, steht Gott zu seinem Wort, das er in der Schöpfung gegeben hat. Und Gott geht noch darüber hinaus: Der Übeltäter bekehre sich zum Herrn, so wird er sich seiner erbarmen, und zu unserem Gott, denn bei ihm ist viel Vergebung.
Diese Vergebung schenkt Gott uns in seinem größten Wort: Jesus Christus. Und dieses Wort Gottes haben wir wahrhaft nötig. Denn oft reichen unsere Worte nicht aus, wenn die Situation schon eskaliert ist und beide Seiten sich nur hasserfüllt anschreien. Oder wenn uns vor Angst und Entsetzen die Worte ausgegangen sind. Wenn es uns angesichts aller Grausamkeit die Sprache verschlagen hat. Uns fehlen oft die Worte, um zu helfen und zu trösten. Aber Jesus ist als Gottes Wort in die Welt gekommen, um uns aus dieser Sprachlosigkeit zu erlösen und um uns unsere Schuld zu vergeben. Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und eure Wege sind nicht meine Wege, spricht der Herr.
Unsere Gedanken führen oft in die Sackgasse: In die Sprachlosigkeit, die Hoffnungslosigkeit, die Ausweglosigkeit. Unsere Gedanken führen uns dazu, dass wir uns von Gott und voneinander entfernen, sie führen uns in die Sünde. Doch Gott hat andere Gedanken und Pläne für uns, Pläne des Heils und nicht des Unheils, Pläne, die uns Zukunft und Hoffnung schenken. Pläne und Gedanken eines Friedens, der größer ist als alle menschliche Vernunft: Soviel der Himmel höher ist als die Erde, so sind auch meine Wege höher als eure Wege und meine Gedanken als eure Gedanken. Was Gott uns in Jesus Christus schenkt, übersteigt alle menschlichen Worte. Denn Gottes Wort kann bewirken, was uns trotz guter Vorsätze immer wieder misslingt. Nämlich die Einsicht in unsere Sünde: Das ehrliche Eingeständnis, wo wir versagt haben, und die durchaus schmerzhafte Erkenntnis, wo wir Fehler gemacht haben.
Aber so schmerzhaft diese Erkenntnis ist, so heilsam ist sie auch. Denn nur die Erkenntnis unserer Sünde ermöglicht Reue und Umkehr. Darum sind Gottes Gedanken höher als unsere Gedanken. Wir denken Auge um Auge, wir zahlen es einander heim, wir vergelten Böses mit Bösem. Gottes Gedanken aber gehen in eine ganz andere Richtung. Gottes Wort richtet uns neu aus und ermöglicht dadurch die Heimkehr zu Gott und den Weg zu Frieden, Gerechtigkeit und Versöhnung. Der Gottlose lasse von seinem Wege und der Übeltäter von seinen Gedanken und bekehre sich zum Herrn, denn er wird sich seiner erbarmen, und zu unserem Gott, denn bei ihm ist viel Vergebung.
Vergebung ist etwas, das uns ungeheuer schwer fällt. Dazu sind wir meist viel zu verletzt und viel zu sehr getroffen. Bestenfalls können wir sagen: „Reden wir nicht mehr darüber!“ Aber so richtig ausgesprochen haben wir uns dann nicht, sondern den Konflikt nur unter den Teppich gekehrt, wo er weiter gären kann, bis er sich wieder in bösen Worten Luft macht. Gottes Vergebung ist etwas ganz anderes. Sie erfordert zwar die schmerzhafte Einsicht in die eigenen Fehler, aber sie heilt zugleich alle Wunden, so dass ein neuer Anfang Wirklichkeit wird. Ein neuer Anfang mit Gott und ein neuer Anfang unter uns. Denn Gottes Wort der Vergebung macht uns frei zur Versöhnung, und das gleich in mehrfacher Hinsicht. Wir werden befreit zur Versöhnung untereinander, wo Schuld uns trennte. Wir werden aber auch befreit zur Versöhnung mit den Zumutungen des Lebens. Wir werden dazu befreit, auch mit Krisen und Katastrophen, die es nach wie vor geben wird, fertig zu werden. Denn Gott spricht in Christus das Wort vom Kreuz. Das Kreuz steht dafür ein, dass Jesus Christus unser Leid mit uns trägt. Dass also alle, die leiden, Christus an ihrer Seite haben und darin Trost erfahren. Ebenso steht das Kreuz dafür ein, dass alle, die Schuld auf sich geladen haben, unter dem Kreuz zu Einsicht und Umkehr gelangen können.
Im Horizont von Gottes Vergebung wird wahrer Frieden möglich: Heilung der verletzten und gekränkten Seelen. Gerechtigkeit für alle, denen Leid zugefügt worden ist. Und schließlich Versöhnung unter den einst Zerstrittenen, die ihr Land dann gemeinsam neu aufbauen werden. Denn ihr sollt in Freuden ausziehen und im Frieden geleitet werden. Berge und Hügel sollen vor euch her frohlocken mit Jauchzen und alle Bäume auf dem Felde in die Hände klatschen. – Das ist Gottes Versprechen in Jesus Christus. Gottes gültiges Wort, das er uns gegeben hat und auf das wir uns verlassen können.
Amen.
Predigt über Ex 33, 18-23 am 2. Sonntag nach Epiphanias, 15.1.2023 - Pastorin Antje Stümke
Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater und unserem Herrn JC. Amen.
Liebe Gemeinde,
was ist nun Epiphanias? Epiphanias bedeutet übersetzt Erscheinung, und gemeint ist die Erscheinung der Liebe und Gnade Gottes, wie sie zu Weihnachten in die Welt gekommen ist und unter uns lebt. Aber können wir das glauben? Mir scheint es so, als könnten wir davon nur singen. Im Lied lassen wir uns von der Schönheit der Melodie und der poetischen Kraft der Texte mitnehmen. So wie im Wochenlied: Du Morgenstern, du Licht vom Licht, das durch die Finsternisse bricht, du gingst vor aller Zeiten Lauf in unerschaffner Klarheit auf. Du Lebensquell, wir danken dir, auf dich, Lebend’ger, hoffen wir. Denn du durchdrangst des Todes Nacht, hast Sieg und Leben uns gebracht. – In unseren Liedern lassen wir unserem Glauben freien Lauf, da denken wir gar nicht nach, da lassen wir uns nicht von Angst und Zweifel beirren. Wenn wir unseren Glauben aber in Worten ausdrücken wollen, stammeln wir nur. Dann stockt uns der Atem, dann versiegt der Redefluss, der im Lied so sprudelnd aus uns hervorgequollen ist. Wenn wir von unserem Glauben singen, kommt er uns leicht über die Lippen. Wenn wir ihn hingegen erklären sollen, geraten wir in Erklärungsnot.
Vielleicht fragen und flehen wir dann wie Mose in dem Predigtwort, das wir gleich hören werden: Herr, lass mich doch deine Herrlichkeit sehen! – Vermutlich nicht in diesen Worten. Aber wir alle kennen das Stoßgebet: Lieber Gott, hilf! – Oder Äußerungen, in denen wir unsere Resignation und Enttäuschung über Gott zum Ausdruck bringen: Der da oben macht ja doch, was er will! Wenn es einen Gott gäbe, dann dürfte der doch nicht zulassen, was alles Schlimmes passiert! Wenn es einen Gott gäbe, dann müsste man ihn doch auch mal sehen! Und Mose bittet: Lass mich doch deine Herrlichkeit sehen! - Mose bittet dies in großer Not. Auch bei uns ist es doch sprichwörtlich die Not, die uns beten lehrt. Zugleich aber fühlen wir uns von Gott enttäuscht, wenn er die Not nicht wandelt und die Krise andauert. Für Mose bestanden Not und Krise konkret in der Ungewissheit darüber, wie Gott sich wohl verhalten wird, wenn Menschen nicht nach seinem Willen handeln. Während er selbst auf dem Berg Sinai die Tafeln mit den zehn Geboten empfangen hatte, hatte sich das Volk Israel in der Wüste ein Idol gebaut, einen Götzen. Ein goldenes Kalb, das sie angebetet und um das sie getanzt hatten. Während Gott seinen Willen kundtut, wird dieser also schon gebrochen. Wie wird Gott sich da verhalten? Hört unser Predigtwort aus dem zweiten Buch Mose, Kap. 33:
Mose sprach zum Herrn: Lass mich doch deine Herrlichkeit sehen!
Und Gott sprach: Ich will vor deinem Angesicht all meine Güte vorübergehen lassen und will ausrufen den Namen des Herrn vor dir: Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig, und wessen ich mich erbarme, dessen erbarme ich mich.
Und er sprach weiter: Mein Angesicht kannst du nicht sehen; denn kein Mensch wird leben, der mich sieht.
Und der Herr sprach weiter: Siehe, es ist ein Raum bei mir, da sollst du auf dem Fels stehen. Wenn dann meine Herrlichkeit vorübergeht, will ich dich in die Felskluft stellen und meine Hand über dir halten, bis ich vorüber gegangen bin. Dann will ich meine Hand von dir tun, und du darfst hinter mir her sehen. Aber mein Angesicht kann man nicht sehen.
Auf seine Bitte hin, die Herrlichkeit Gottes sehen zu dürfen, erhält Mose drei Antworten von Gott. Diese wirken beim ersten Hören abweisend. So, als würde Gott dem Mose seine Bitte abschlagen. So, als würde es Mose wie uns gehen, wenn wir uns enttäuscht von Gott abwenden, weil wir uns in Krise und Not allein gelassen fühlen. Am deutlichsten klingt diese Abweisung in Gottes zweiter Antwort an: Mein Angesicht kannst du nicht sehen. Denn kein Mensch wird leben, der mich sieht. Das klingt sogar bedrohlich. So, als würde es unseren Tod bedeuten, wenn wir Gott direkt sehen würden. Dann wäre es so, als würden wir in die Sonne gucken. Wenn wir das tun, müssen wir doch vor Schmerz die Augen zukneifen, weil uns die ungeheure Kraft des Lichtes blendet. Und danach sehen wir erstmal gar nichts. So wäre es wohl auch, wenn wir Gott direkt ins Gesicht sehen könnten. Denn dann müssten wir unser Gesicht abwenden, dann würden wir unser Gesicht sogar verlieren, dann müssten wir vor Schuld und Scham im Boden versinken. Das Volk Israel hat in dem Moment um das goldene Kalb getanzt, in dem Gott dem Volk durch Mose seine Gebote kundgetan hat. Der Abfall von Gott und der Verstoß gegen seinen Willen durchziehen die Menschheitsgeschichte und ebenso unser persönliches Leben. Denn wer wollte behaupten, er oder sie sei ohne Schuld?
Mein Angesicht kannst du nicht sehen. Denn kein Mensch wird leben, der mich sieht. Das Sonnenlicht können wir nur mit einer Sonnenbrille ertragen, mit einem Lichtschutzfilter also. Und Gottes Antwort, die beim ersten Hören so abweisend klingt, könnte darum unsere Rettung sein. Ein Filter, durch den unsere Schuld in einem anderen Licht erscheint. Sie bleibt Schuld, weil ein anderer durch mein Versagen leiden muss. Das gilt sowohl für Verletzungen und Konflikte in persönlichen Beziehungen als auch in Krieg und Gewalt. Schuld bleibt Schuld, und darum können wir vor Gottes Angesicht ohne einen schützenden Filter nicht bestehen. Doch diesen Schutzfilter gibt es, dieser Filter ist Gottes Gnade und Erbarmen. Die dritte Antwort Gottes auf Moses Bitte hin lautet: Und der Herr sprach weiter: Siehe, es ist ein Raum bei mir, da sollst du auf dem Fels stehen. Wenn dann meine Herrlichkeit vorübergeht, will ich dich in die Felskluft stellen und meine Hand über dir halten, bis ich vorüber gegangen bin. Dann will ich meine Hand von dir tun, und du darfst hinter mir her sehen. Aber mein Angesicht kann man nicht sehen. – Bei Gott und in Gott gibt es einen Schutzraum. Es ist ein Fels, auf dem du, Mensch, sicher stehen darfst. Du wirst in deiner Schuld nicht ins Bodenlose versinken, sondern du wirst bei mir immer festen Halt und Grund unter den Füßen haben. Und wenn dann meine Herrlichkeit vorübergeht, wirst du in einer Felskluft geborgen sein, und ich werde meine schützende Hand über dir halten und dich bewahren. – Was für ein wunderbares Bild! Haben wir das nicht alle im Leben erfahren? Die Bewahrung in großer Not, auch in ganz alltäglichen Situationen, z.B. beim Autofahren: Wie oft schon hätte eine Unachtsamkeit meinerseits einen Unfall verursachen können! Wie oft schon hätte ich einem anderen Menschen schaden und mich selbst in große Schuld stürzen können! Aber es ist gut gegangen, und im Nachhinein habe ich darin die Bewahrung durch Gott erfahren. Dann will ich meine Hand von dir tun, und du darfst hinter mir her sehen. Aber mein Angesicht kann man nicht sehen. – Ja, als ich Schutz und Rettung erkannte, war Gott schon wieder weg. Aber er ist da gewesen! Er hat in meiner Seele und in meinem Herzen Spuren hinterlassen. Spuren, die meinen Glauben formen und ihm immer wieder Nahrung geben: Der, den ich nicht sehen kann, der, der mich auch immer wieder ins Grübeln und Zweifeln bringt, der, vor dem ich mich mit meiner Schuld am liebsten verstecken möchte – dieser Gott ist da, dieser Gott hält seine Hand über mir, dieser Gott schenkt mir Gnade und Erbarmen.
In diesem Glauben und aus solchen Erfahrungen heraus schauen wir uns nun zuletzt Gottes erste Antwort an Mose an. Und Gott sprach: Ich will vor deinem Angesicht all meine Güte vorübergehen lassen und will ausrufen den Namen des Herrn vor dir: Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig, und wessen ich mich erbarme, dessen erbarme ich mich. – Gott erinnert Mose an seinen Namen, den er ihm in einer anderen Gottesbegegnung offenbart hat. Unser Gott hat keinen Namen wie Zeus bei den Griechen oder Baal im Umfeld Israels. Darum kann auch kein Bild von Gott gemacht werden, denn Gott ist größer als alle menschliche Vorstellung. Dennoch offenbart sich Gott mit einem Namen, und dies ist ein Name, in dem Gott seine Beziehung zu den Menschen zum Ausdruck bringt: Ich werde für dich da sein als der, der ich da sein werde. Mit diesem Namen bleibt Gott einerseits frei und unverfügbar. Er bleibt der, dessen Angesicht wird nicht ungefiltert sehen können. Er bleibt der Herr und Richter der Welt, vor dem wir uns einmal mit unserer Schuld werden verantworten müssen. Zugleich aber macht Gott uns mit seinem Namen ein großes Geschenk: Er verschenkt sich selbst an uns. Ich werde für dich da sein als der, der ich da sein werde. - Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig, und wessen ich mich erbarme, dessen erbarme ich mich.
Gottes Namen lautet also Gnade und Barmherzigkeit, er lautet: Für-mich-da-sein. Er lautet Jesus. Denn Jesus bedeutet übersetzt Retter. Oder wie Martin Luther es in einer eigenen Wortschöpfung nennt: Heiland. Jesus ist der Filter, in dem sich unser Gott dann für alle Welt offenbart hat. Jesus ist der Retter, der all unser Leid mit uns trägt, der schützend seine Hand über uns hält, und in dem wir um Vergebung aller Schuld bitten dürfen. Jesus ist der Heiland, der uns Gnade und Barmherzigkeit, Versöhnung und Frieden schenkt.
Davon singen wir in unseren Liedern, in denen uns der Glaube an Jesus Christus so leicht über die Lippen kommt. In der Schönheit der Melodien und der poetischen Kraft der Texte bringen wir zum Klingen, was Gott dem Mose zuallererst sagt: Ich will vor deinem Angesicht all meine Güte vorübergehen lassen. Ja, du, Mensch, sollst das Gute und Schöne sehen und erkennen, das ich für dich geschaffen und worin ich dich bewahrt habe. Du sollst dankbar zurückblicken, und du darfst dann loben und feiern. Zwar gibt es Not und Krise weiterhin, aber es gibt auch Gaben und Güter Gottes, die das Leben hell machen. Das konnte ich zu Epiphanias in dieser Kirche erleben. Am Epiphaniastag feiern ja unsere Glaubensgeschwister aus der orthodoxen Kirche ihr Weihnachtsfest. Darum hatte ich Geflüchtete aus der Ukraine in unsere Kirche eingeladen, und sie haben hier ihre Lieder gesungen und gebetet. Und einer sagte mir: Was ist das für eine schöne Kirche! Mitten in Leid und Entbehrung, trotz Putins Bomben und der Angst, die er um Angehörige und Freunde täglich aushalten muss, hat er die Schönheit gesehen und die Güte Gottes erkannt. Und als die Menschen ihre ukrainischen Weihnachtslieder sangen, haben ihre Augen so sehr vor Freude geleuchtet, dass mir die Tränen gekommen sind. Ja, gegen den Augenschein haben sie in unserer schönen Kirche und beim Singen der vertrauten Lieder den Glanz Gottes gesehen. Hier haben sie auf einem Felsen, auf einem festen Grund gestanden, und in einer Kluft Schutz und Geborgenheit erfahren. Hier sind alle Zweifel und Ängste für einen Moment von ihnen abgefallen, hier haben sie dankbar das Leben gefeiert. Gnade und Erbarmen Gottes haben sich als bleibende Spuren in ihre Seele eingegraben. Ihr Glaube hat mitten im Leid Nahrung bekommen. So geht es auch uns, wenn wir in unserer schönen Kirche die Nähe Gottes spüren und ihm dankbar das Lob des Glaubens singen, das uns in Liedern so leicht von den Lippen kommt. Amen.
Predigt über Lk 2,1-20 an Heiligabend 2022 - Pastorin Antje Stümke
Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater und unserem Herrn JC. Amen.
Liebe Gemeinde,
endlich wieder richtig Weihnachten! Nach zwei Jahren im Lockdown, mit Corona und Kontaktbeschränkungen freuen wir uns darüber, dass wir uns wieder auf Weihnachtsmärkten drängeln und uns mit Glühwein in Weihnachtsstimmung bringen durften. Dennoch ist diese Stimmung getrübt, sei es, weil in manchen Familien um einen geliebten Menschen getrauert wird. Oder sei es, weil alles teurer geworden ist, sowohl Lebensmittel als auch Energie. Manch einer kann da mit Geschenken nicht so großzügig sein wie in den Vorjahren, und auch der Braten fällt kleiner aus. Dazu schwebt über den wirtschaftlichen Sorgen wie ein riesiges Damoklesschwert deren Ursache: Russlands brutaler Angriffskrieg gegen die Ukraine, der heute auf den Tag genau seit zehn Monaten tobt.
Wie hören wir da die Botschaft der Engel: Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens! – Denn es ist ja kein Frieden! Und während wir heute mit unseren Familien doch in warmen Stuben feiern, hungern und frieren die Menschen in der Ukraine. Eigentlich war das in den vergangenen Jahren nicht anders, nur sind uns die Kriege in Syrien und Afghanistan, im Jemen und in Mali nicht so nahe gegangen, weil sie geographisch weiter entfernt liegen. Nun aber wird in Europa Krieg geführt, und es erschüttert uns zutiefst, dass auch dieses Weihnachtsfest von Hass und Gewalt überschattet ist. Friede auf Erden - danach sehnen wir uns noch immer. Und mit uns sehnen sich diejenigen nach Frieden und Geborgenheit, die ihr Zuhause verloren haben – durch Bomben, aber auch durch Überschwemmungen in Bangladesh oder durch Dürren in großen Teilen Afrikas. Nach Frieden und nach einem sicheren Ort sehnen sich die vielen Flüchtlinge weltweit, und nach Frieden und Heilung sehnen sich alle, denen durch Folter und Vergewaltigung ihre Würde grausam geraubt worden ist.
Dagegen verkünden uns die Engel vom Himmel herab eine neue Zeit, in der all das aufhört, was Menschen belastet und worunter sie leiden. Eine Zeit, in der wahrhaftig Frieden herrscht: Denn euch ist heute der Heiland geboren! Die Botschaft der Engel trifft den Nerv unserer Sehnsucht und den wunden Punkt eines jeden Weihnachtsfestes. Denn auch zu Weihnachten bleiben Hoffnungen ja unerfüllt und Fragen unbeantwortet. Auch zu Weihnachten wird uns zugemutet, weiter in den ungelösten Nöten unserer Welt zu leben. Dennoch trägt Weihnachten seit 2000 Jahren in sich die Kraft, alle Nöte und Krisen zu überdauern und sich sogar gegen Krieg und Gewalt mit der Botschaft der Liebe zu behaupten. Keine Grausamkeit im Laufe der Zeiten hat Weihnachten ausrotten können. Sondern Weihnachten hat sich mit der schlichten Geschichte, die wir eben hörten, immer durchgesetzt. Mag die Finsternis auch noch so finster sein, das Licht aus der Krippe leuchtet in unsere Angst und unseren Schmerz hinein. Dieses Friedenslicht gibt der Welt einen neuen Schein – so unscheinbar es in seiner Armseligkeit auch wirken mag und so wenig es gegen Leid und Gewalt ausrichten kann. Denn dieses Licht schenkt uns den Schein der Hoffnung gegen jeden Augenschein. Den Glanz der Liebe Gottes, die größer ist als menschliche Unvernunft. Die Kraft der Gnade und Vergebung Gottes, die alle Schuld überwindet und uns zur Versöhnung untereinander befreit.
Vom Himmel herab verkünden uns die Engel mit Weihnachten eine neue Zeit, die aber aus der Zeit herausgefallen ist und alle Zeiten überdauert. Weihnachten ist unsere Vergangenheit, unsere Gegenwart und unsere Zukunft mit Gott. Weihnachten ist Gottes ewiger Zuspruch der Liebe und Gnade, der uns tröstet und stärkt. Und zugleich ist Weihnachten Gottes Anspruch an uns, dass wir uns wie die Hirten von Bethlehem auf den Weg zum Stall machen, um uns heute neu mit Gottes Frieden beschenken zu lassen.
In der unerlösten Welt liegt der Frieden, auf den wir hoffen, immer noch vor uns. Der Einsatz für Frieden und Gerechtigkeit bleibt unsere Aufgabe in der Nachfolge Jesu. Das wäre ohne Weihnachten gar nicht zu ertragen. Zu Weihnachten schenkt Gott uns einen Keimling des Friedens, der mit Gottes Hilfe in uns wächst und reift. Zu Weihnachten kommt wahrer Friede zu uns und wird in unsere Herzen hineingegossen: Euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr. Mit den Hirten lassen wir uns diesen Glauben schenken, den Glauben an Jesus Christus, unseren Retter und Erlöser, der uns weihnachtlich verändert und ermutigt. Im Krippenkind leuchtet Gottes himmlisches Licht in die Finsternis der Welt hinein. Weihnachten schenkt uns auch heute Nacht die unumstößliche Hoffnung und den festen Glauben, dass Gottes Licht den Sieg davontragen wird, obwohl die Finsternis so mächtig ist, obwohl Kriege toben, obwohl Menschen verhungern oder ihre Heimat wegen des Klimawandels verlieren. Weihnachten ist stärker als alles, was uns zu schaffen macht und worunter wir leiden.
Darum sagt der Engel Gottes den Hirten und uns: Fürchtet euch nicht, denn siehe, ich verkündige euch große Freude! - Der Heiland kommt zu euch, um euch Licht und Heil, Gnade und Trost, Frieden und Versöhnung zu schenken. Das Kind in der Krippe erlöst euch aus Angst und Schuld, aus Müdigkeit und Gleichgültigkeit, aus Verbitterung und Verzweiflung. Es tröstet in allen Schmerzen, die euch zugefügt, und in allen Entbehrungen, die euch zugemutet werden. Es schenkt uns eine bleibende Freude, die uns hilft, in den vielen Ungerechtigkeiten des Lebens getrost und froh zu bleiben. Denn Gott wird Mensch, dir, Mensch, zugute! In der Geburt des Krippenkindes kommt er in unsere Herzen und Sinne und führt uns zu Verantwortung und Solidarität. Jesus Christus ermutigt uns in unserem Glauben, dass alle Grausamkeit ein Ende finden wird. Denn er selbst, der Sohn Gottes, geht mit uns und lebt in uns. Im Licht Gottes machen wir uns daran, selbst zur Liebe, zur Gerechtigkeit und zum Frieden beizutragen.
Amen.
Predigt über Lk 23,33-49 am Karfreitag, den 15.4.2022 - Pastorin Antje Stümke
Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater und unserem Herrn JC. Amen.
Liebe Gemeinde!
„Fürwahr, dieser ist gerecht gewesen!“ – Das sagt ein römischer Hauptmann, nachdem Jesus am Kreuz qualvoll gestorben ist. Und damit erkennt er: Der, der hier soeben gestorben ist, hat den Tod nicht verdient. Und das grauenvolle und demütigende Leiden, dem Jesus in der Folter und am Kreuz ausgesetzt gewesen ist, ist nicht zu rechtfertigen. Diese Kreuzigung, die Todesstrafe der Römer für Rebellen und politische Gefangene, ist vielmehr zu verurteilen. „Denn fürwahr, dieser ist gerecht gewesen!“ - Aber warum nimmt einer, der völlig unschuldig ist, eine Schuld auf sich, die damals auf solch entsetzliche Weise bestraft worden ist? Warum leidet ein Mensch freiwillig so unerträgliche Qualen? Warum stirbt Jesus, der Gerechte, der Sohn Gottes? - Es ist der Evangelist Lukas, der in seinem Bericht der Kreuzigung Jesu den Akzent auf diese Fragen setzt. Seine Erzählung ist an diesem Karfreitag unser Predigtwort. Auch bei Lukas wird uns ebenso wie beim Evangelisten Johannes, dessen Bericht wir eben hörten, von einem Gespräch erzählt, das Jesus am Kreuz führt. Doch waren es bei Johannes die Mutter und der Jünger Jesu, so sind es bei Lukas zwei Verbrecher, die zusammen mit Jesus gekreuzigt werden.
Als sie an die Stätte kamen, die da heißt Schädelstätte, kreuzigten sie ihn daselbst und zwei Übeltäter mit ihm, einen zur Rechten und einen zur Linken. Jesus aber sprach: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!“ – Und sie teilten seine Kleider und warfen das Los darum. Und das Volk stand und sah zu. Auch die Obersten spotteten und sprachen: „er hat anderen geholfen; er helfe sich selber, wenn er der Christus ist, der Auserwählte Gottes.“ Es verspotteten ihn auch die Kriegsknechte, traten zu ihm und brachten ihm Essig und sprachen: „Bist du der Juden König, so hilf dir selber!“ Und über ihm stand die Überschrift: Der Juden König. - Aber einer der Übeltäter, die da gehenkt waren, lästerte ihn und sprach: „Bist du nicht der Christus? Hilf dir selbst und uns!“ Da antwortete der andere, strafte ihn und sprach: „Fürchtest du dich denn nicht vor Gott, der du doch in gleicher Verdammnis bist? Und wir sind mit Recht darin, denn wir empfangen, was unsere Taten wert sind. Dieser aber hat nichts Unrechtes getan.“ Und er sprach: „Jesus, denke an mich, wenn du in dein Reich kommst!“ Und Jesus sprach zu ihm: „Wahrlich, ich sage dir: Heute wirst du mit mir im Paradiese sein.“- Es war schon um die sechste Stunde, da wurde eine Finsternis über das ganze Land bis an die neunte Stunde, und die Sonne verlor ihren Schein, und der Vorhang des Tempels zerriß mitten entzwei. Und Jesus rief laut und sprach: „Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände!“ Und als er das gesagt hatte, verschied er. - Da aber der Hauptmann sah, was da geschah, pries er Gott und sprach: „Fürwahr, dieser Mensch ist ein Gerechter gewesen!“ Und alles Volk, das dabei war und zusah, da sie sahen, was da geschah, schlugen sich an ihre Brust und kehrten wieder um. Es standen aber alle seine Bekannten von ferne und die Frauen, die ihm aus Galiläa nachgefolgt waren, und sahen das alles.
Wenn du wirklich der Sohn Gottes bist, dann hilf dir selber! Nachdem Jesus schon im Verhör qualvolle Schmerzen und höhnischen Spott ertragen hat, machen sich auch im Tod noch alle über ihn lustig. Trotzdem denkt Jesus, der sich immer den Menschen zugewandt hat, der die Kranken geheilt, die Verlorenen gesucht und die Sünder gerufen hat, auch in Qual und Einsamkeit nicht an sich, sondern an uns: Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun! - Bei diesem Gebet Jesu am Kreuz lässt uns der Evangelist Lukas im Unklaren darüber, an wen Jesus denkt. Ist es die johlende und spottende Menschenmenge zu seinen Füßen? Sind es die beiden Verbrecher an seiner Seite? Oder meint er sie alle – und uns dazu? Denn Jesu Gebet betrifft uns heute wie damals: Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun! Wussten sie es wirklich nicht? Wissen auch diejenigen, die heute foltern, vergewaltigen und töten, nicht, was sie tun? Kann man tatsächlich nicht wissen, dass man gerade einen Menschen umbringt? Kann man es tatsächlich nicht merken, dass man einen Menschen quält, dass man ihn kränkt und verletzt, demütigt und erniedrigt? Kann unser Hass uns so sehr verblenden, dass jeder Anstand in uns völlig ausgeschaltet ist? – Fassungslos und ohnmächtig blicken wir auf das Böse, das sich in unserer Welt immer wieder ereignet, in der Ukraine und anderswo. Auf das Böse, das wir nicht wollen, das wir uns nicht erklären können, und das doch immer wieder von uns Besitz ergreift. Vielleicht wissen wir Menschen also wirklich nicht, was wir tun und wozu wir imstande sein können, wenn wir unsere Vernunft ausschalten, wenn wir unseren Trieben folgen oder wenn wir unsere Macht missbrauchen.
Aber ist das eine Entschuldigung? Kann es uns entschuldigen, wenn wir geltend machen: Wir konnten doch gar nichts dafür! Wir wussten doch gar nichts davon! Und wenn wir es wussten, dann gab es keine andere Möglichkeit als mitzumachen, anderenfalls wäre es uns selbst an den Kragen gegangen! Kann es uns entschuldigen, dass wir nicht wissen, was wir tun, wenn wir heute wegschauen und verdrängen, weil wir das Leid anderer nicht aushalten können? Wir wissen, dass es eigentlich keine Entschuldigung für unser Verhalten gibt, weder für das aktive Mitmachen noch für das passive Weggucken. Weder für die, die damals unter dem Kreuz ungerührt um Jesu Kleider würfelten und ihn verhöhnten, noch für die, die von ferne zuschauten wie die Frauen, die ihm seit Galiläa als Jüngerinnen nachgefolgt waren, noch für die übrigen Jünger, die aus Angst gar nicht erst dabei gewesen sind. Es ist nicht zu entschuldigen, wenn ein Mensch durch die Schuld anderer leidet, weder damals noch heute.
Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun! – Jesus betet dennoch so. Vergebung statt Entschuldigung. Ent-schuldigt werden kann Schuld nicht, denn die Tat der Schuld bleibt ja. Gefolterte sind für den Rest ihres Lebens körperlich und psychisch versehrt. Frauen, die im Krieg vergewaltigt werden, bleiben traumatisiert. Und wer in Butscha und Tschernihiw ermordet worden ist, kann nicht wieder zum Leben erweckt werden. Mit der schuldigen Tat bleibt auch die Schuld der Täter. Das müssen wir zunächst einmal aushalten. Denn anders kann den Opfern nicht Gerechtigkeit widerfahren. Die Schuld der Täter bleibt, was uns bei Bösewichtern wie Putin und anderen Diktatoren oder bei Terroristen auch einleuchtet. Da wünschen wir uns ja geradezu eine Bestrafung. Wie aber urteilen wir, wenn wir in viel kleinerem Ausmaß selbst Böses getan haben? Wenn wir einen Menschen so sehr verletzt haben, dass es zum Bruch der Beziehung kam! Wenn Stolz und die Angst, selbst das Gesicht zu verlieren, es unmöglich machen, die eigene Schuld einzugestehen!
Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun! – So betet Jesus für alle, die schuldig geworden sind. Vergebung statt Entschuldigung. Die Vergebung Gottes ist ganz anders als unsere Versuche der Selbstrechtfertigung. Denn Gott behält den Überblick. Wenn Gott Schuld vergibt, hat er beides im Blick: Die Schuld der Täter und das Leiden der Opfer. Vergebung gibt es nicht billig und automatisch und auch nicht ohne Reue. Vergebung geschieht im Gespräch mit Gott über das, was ich getan habe. - So wie Jesus am Kreuz mit dem einen der beiden Rebellen redet. Mit dem, der plötzlich begriffen hat, was hier geschehen ist und der seinen spottenden Kumpan zurechtweist: Fürchtest du dich denn nicht vor Gott, der du doch in gleicher Verdammnis bist? Und wir beide sind mit Recht darin, denn wir empfangen, was unsere Taten wert sind, aber dieser hat nichts Unrechtes getan! - Fürchtest du dich nicht vor Gott? Fürchtest du dich nicht davor, dass du heute Gott selbst in seinem Gericht gegenüber treten und dich für deine Taten verantworten musst? Zwar meinten wir, im Recht zu sein, wenn wir als Partisanen die römischen Eroberer aus dem Hinterhalt erschossen haben. Aber haben wir da nicht Gleiches mit Gleichem vergolten? Sind wir besser als die, die wir bekämpft haben? Oder haben wir nicht ebenso wie sie Schuld auf uns geladen?
Wer ist besser? Wem gebührt unser Mitgefühl? – Im Krieg Russlands gegen die Ukraine gehört unsere Solidarität eindeutig den Menschen in der Ukraine. Und das natürlich zu Recht, denn sie sind es, die fliehen müssen, die grausam ermordet und deren Städte und Krankenhäuser sinnlos zerbombt werden. Die ukrainische Armee verteidigt bisher nur das eigene Land. Noch ist keine Rakete gen Moskau geflogen. Auch das bestärkt unsere Sympathie, wir gönnen den Ukrainern die Rückgewinnung der Gebiete um Kiew und fürchten mit ihnen den Großangriff im Donbass. Aber weder das Mitgefühl mit der Zivilbevölkerung noch die Freude über militärische Erfolge der ukrainischen Soldaten dürfen uns über eines hinwegtäuschen: Es sterben in diesem Krieg auch Russen. Junge Männer, die vielleicht nur 20 Jahre alt geworden sind. Und in Russland hat sich zwar der größere Teil der Bevölkerung von Putins Lügenpropaganda einlullen lassen, aber es gibt auch dort Menschen, die unser Mitgefühl und unser Gebet brauchen. Unzählige Menschen sind in Haft, weil sie gegen den Krieg demonstriert haben, und auch aus Russland sind Menschen geflüchtet, weil sie um ihr Leben fürchten. In einem Krieg gibt es immer auf beiden Seiten Leid und auf beiden Seiten Schuld, wenn auch hier die russische Waagschale das schwerere Schuldgewicht trägt und die ukrainische Waagschale das größere Leidgewicht. Aber auch das darf uns nicht dazu verführen, nun laut auszusprechen, was viele bislang nur gedacht haben: Ich habe ja immer gewusst, dass dem Russen nicht zu trauen ist! Wer so denkt, erklärt alle Bemühungen um Entspannung und Frieden nach dem kalten Krieg für gescheitert.
Zwar mag die Geschichte diesen Skeptikern derzeit Recht geben. Aber vom Kreuz Christi aus betrachtet behalten sie nicht Recht. Da sagt Jesus dem einen, der seine Schuld begreift und bereut: Wahrlich, ich sage dir: Heute wirst du mit mir im Paradiese sein. – Dieses Urteil Jesu gibt nicht den Kriegstreibern Recht und auch nicht denen, die aus realistischen Erwägungen heraus schon immer für militärische Aufrüstung waren. Denn das Paradies kann nur ein Ort des vollkommenen Friedens sein. Darum setzt sich die Kirche überall auf der Welt für den Frieden ein. Derzeit jedoch bringt Putins Angriffskrieg uns Christen in ein großes Dilemma. Eigentlich wollen wir ohne Waffen Frieden schaffen. Aber die Ukraine hat jedes Recht auf Verteidigung – und braucht dazu Waffen. In einem solchen Dilemma gibt es nicht mehr das eindeutig Gute und das eindeutig Böse, sondern wir werden so oder so in das Böse mit hineingezogen. Damit werden die beiden Verbrecher, die mit Jesus gekreuzigt werden, zu Typen, in deren Gespräch wir unser eigenes Dilemma wiederfinden. Als Partisanen wollten sie ja auch ihr Land und ihre Eigenständigkeit gegen eine Besatzungsmacht verteidigen. Der eine von ihnen bleibt in diesem Freund-Feind-Denken verhaftet, während der andere auch die eigene Schuld sieht und das Leid, das er anderen zugefügt hat.
Ihm sagt Jesus: Heute wirst du mit mir im Paradiese sein. Heute, am Karfreitag, wird die Tür zum Paradies geöffnet und Vergebung der Schuld ermöglicht. Am Kreuz vollendet sich, was in der Krippe begonnen hat. Zu Weihnachten hat der Engel im Lukasevangelium verkündet: Euch ist heute der Heiland geboren! Und in der Passionsgeschichte sagt Jesus: Heute wirst du mit mir im Paradies sein! Wie es in der Geburtsstunde Jesu mitten in der Nacht strahlend hell wurde, weil der Sohn Gottes in die Welt gekommen ist, so wird es in Jesu Sterbestunde zur Mittagszeit stockfinster, weil der Sohn Gottes für uns stirbt. – In Krippe und Kreuz wird uns die Gnade Gottes geschenkt: Heilung aller Wunden und Vergebung aller Schuld. Wer leidet, kann durch das Kreuz Trost und Hilfe empfangen. Den Trost, dass Gott uns im Leiden nicht allein lässt, sondern dass er mit uns trägt, was er uns an Schmerzen zumutet. Und die Hilfe, mit der wir aushalten können, was andere uns an Kränkungen, Verletzungen und Gewalt zufügen. - Ebenso kann in der Finsternis des Kreuzes die Erkenntnis unserer Sünde wachsen. Wie der eine der beiden Partisanen im Blick auf Jesus sein eigenes Unrecht begriffen hat, können auch wir am Kreuz erkennen, warum Jesus so stirbt und warum Gott, der Vater, ihn so sterben lässt.
Denn Jesus nahm nicht nur das Leid der Welt auf sich, sondern ebenso die Schuld der Menschen. Am Kreuz Christi können wir unser eigenes Bild erkennen: Auch unser derzeitiges Dilemma, das uns zwingt, Entscheidungen zu treffen, die wir als Christen eigentlich ablehnen, die angesichts des Krieges aber nötig sind. Vom Kreuz Christi her aber treffen wir diese Entscheidungen nicht selbstherrlich, sondern in Demut und im Bewusstsein, dass wir gerade so oder so schuldig werden, ob wir uns raushalten oder einmischen. In dieser Erkenntnis beten wir wie der reuige Partisan: Jesus, denke an mich, wenn du in dein Reich kommst!
Und Jesus antwortet uns: Wahrlich, ich sage dir: Heute wirst du mit mir im Paradiese sein! Heute, am Karfreitag und durch mein Kreuz hindurch. Heilung aller Wunden und Vergebung unserer Schuld werden uns im Leiden und Sterben Jesu geschenkt. Im Gericht Gottes, im Gespräch zwischen Gott und mir über alles, was war, in der Erkenntnis unserer Sünde und im Einverständnis über das, was gut und richtig gewesen wäre, wird Vergebung zugesprochen. Und Frieden und Gerechtigkeit werden möglich für Täter und Opfer.
Amen.
Predigt über Mk 8,31-38 an Estomihi, 27.2.2022 - Pastorin Antje Stümke
Gnade sei mit uns und Friede von Gott, unserem Vater und unserem Herrn Jesus Christus. Amen.
Liebe Gemeinde,
gib uns Frieden jeden Tag, gib uns Freiheit, gib uns Freude! So haben wir gerade gesungen und gebetet. Und auch: Lass für Frieden uns und Freiheit immer tätig sein! – Aber haben wir uns wirklich dafür eingesetzt? Oder haben wir nur die Früchte genossen, die aus Frieden und Freiheit wachsen: Bildung, Wohlstand und Komfort. In Frieden und Freiheit zu leben ist uns zur Selbstverständlichkeit geworden. So sehr, dass wir zwar mit Betroffenheit in die Regionen der Welt geblickt haben, in denen Bürgerkriege toben, dass wir die Nachrichten darüber aber immer schnell wieder vergessen haben. Syrien – ja, da gibt es Krieg, aber der währt nun schon so lange, dass wir uns daran gewöhnt haben. Schließlich ist die Lage im Nahen Osten ohnehin instabil, und wirklich gekümmert hat uns das nie, bis 2015 plötzlich Abertausende von Flüchtlingen an unseren Grenzen standen. Mali - ach ja, da ist die Bundeswehr auch im Einsatz, aber glücklicherweise liegen das Mittelmeer und die Sahara zwischen Europa und den Konfliktgebieten Afrikas. Myanmar - richtig, da hat vor einem Jahr das Militär geputscht, aber wo liegt das eigentlich genau? Der Jemen – wie, da wird auch Krieg geführt?
Lass für Frieden uns und Freiheit immer tätig sein! Ehrlicherweise müssen wir zugeben, dass wir genau das nicht getan haben. Sondern wir haben uns in der Komfortzone von Frieden, Freiheit und Wohlstand eingerichtet. Und was hätten wir – so wenden wir zu unserer Rechtfertigung ein – denn tun können für die Menschen in Syrien und Palästina, im Sudan und im Jemen, in Mali und Myanmar? Was können wir nun für die Menschen in der Ukraine tun? – Wie bei allen anderen Kriegen würden wir auch hier am liebsten den Fernseher ausschalten und die Augen vor dem Leid der Menschen verschließen. Nicht aus Hartherzigkeit und Gleichgültigkeit – so unmenschlich sind wir dann doch nicht. Sondern aus Fassungslosigkeit und Hilflosigkeit. Die Älteren unter uns, die den zweiten Weltkrieg noch erlebt haben, wissen genau, wie es sich anfühlt, verängstigt in einem Keller zu sitzen, während Raketen in Häuser hineinschießen. Oder wie es ist, wenn man bei Nacht und Nebel plötzlich die Heimat verlassen muss, nur dass es damals Trecks mit Pferd und Wagen waren und heute kilometerlange Autostaus.
Wer damals Krieg und Flucht erlebt hat, mag durch die Bilder aus Kiew nicht daran erinnert werden, denn die Erinnerungen tun noch immer weh. Und wir Jüngeren wollen nicht wahrhaben, dass wirklich passiert ist, wovon wir meinten, dass wir es Gott sei Dank niemals würden erleben müssen: Ein Krieg in Europa! Nicht nur ein regionaler Konflikt in Nordirland oder im Baskenland. Sondern ein echter Krieg mit einem technisch hoch gerüsteten und über die Maßen gefährlichen Aggressor, der einfach in ein souveränes Land einmarschiert. Ein Krieg in unserer Nähe! Ein Krieg, der uns ganz anders betrifft, als es die Bundeswehreinsätze im Kosovo und in Afghanistan taten. Denn dieser Krieg bedroht nicht nur deutsche Soldaten, sondern er verängstigt uns alle. Ist Putin zu stoppen? Wird er sich nach der Ukraine auch die baltischen Republiken einverleiben? Wird er seine Drohung wahrmachen und sogar einen Atomkrieg wagen? Wird das Undenkbare, das Ungeheuerliche wirklich passieren?
Gib Frieden, Herr, gib Frieden, die Welt nimmt schlimmen Lauf.
Recht wird durch Macht entschieden, wer lügt, liegt obenauf.
Das Unrecht geht im Schwange, wer stark ist, der gewinnt.
Wir rufen, Herr, wie lange? Hilf uns, die friedlos sind.
Gib Frieden, Herr, wir bitten! Die Erde wartet sehr.
Es wird so viel gelitten, die Furcht wächst mehr und mehr.
Die Horizonte grollen, der Glaube spinnt sich ein.
Hilf, wenn wir weichen wollen, und lass uns nicht allein.
Dieses Lied beschreibt sehr gut die aktuelle Situation mit dem Grollen der Geschosse und Putin als mächtigem Lügner, der sich über jedes Recht hinwegsetzt. Ebenso benennt der Dichter unsere Angst und Hilflosigkeit. Der Glaube spinnt sich ein! – Was bedeutet das? Es bedeutet, dass wir nur uns selbst sehen: Unsere Angst vor Putin. Und unsere Angst vor den Folgen, die die Sanktionen für unser Portemonnaie haben werden: Steigende Gaspreise, um nur eines zu nennen. Werde ich mir da den geplanten Urlaub noch leisten können?
Wer so denkt, denkt wie Petrus in unserem Evangelium. Petrus, zu dem Jesus die unfassbar grausamen Worte spricht: Geh hinter mich, du Satan! Denn du meinst nicht, was göttlich, sondern was menschlich ist. Petrus wollte es einfach und bequem haben, und dazu gehörte, dass er es nicht aushalten konnte, als Jesus frei und offen davon redete, welches Leid er erdulden und welchen Tod er bald sterben würde. Wie wir wollte Petrus sich die Ohren zuhalten und die Augen vor der Realität menschlicher Grausamkeit schließen. Wie wir wollte er davon nichts wissen. Dass Jesus ihn darum als Satan bezeichnet, erscheint uns aber völlig überzogen. Der Satan im Ukraine-Krieg ist ja wohl Putin! – Dass Putin mit seiner Aggression, seinem Machtmissbrauch, seinen Lügen und seiner ideologischen Geschichtsfälschung dämonische Züge trägt und Böses tut, ist unbestritten. Aber darauf allein dürfen wir uns nicht ausruhen. Weder die Regierungen der westlichen Welt, weder EU noch Nato. Aber auch nicht wir als einzelne, und schon gar nicht wir als christliche Gemeinde in der Nachfolge Jesu.
Denn um Nachfolge geht es in unserem Evangelium und in Jesu drastischen Worten. Will mir jemand nachfolgen, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach. Denn wer sein Leben behalten will, der wird’s verlieren; und wer sein Leben verliert um meinetwillen und um des Evangeliums willen, der wird’s behalten. Denn was hilft es dem Menschen, die ganze Welt zu gewinnen und Schaden zu nehmen an seiner Seele? Denn was kann der Mensch geben, womit er seine Seele auslöse?
Nachfolge, das macht Jesus hier unmissverständlich klar, ist nicht nur „ein bisschen Frieden“ oder „ein bisschen Liebe“. Nachfolge ist weder gemütlich noch bequem. Sondern Nachfolge kann Mut und Entschlossenheit fordern und sogar das Leben kosten. So war das bei vielen Märtyrern früherer Jahrhunderte oder bei überzeugten Christen wie Dietrich Bonhoeffer. Und heute sehe ich diesen Mut bei Menschen, von denen ich gar nicht weiß, ob sie Christen sind, nämlich bei den Tausenden, die in Moskau und anderen russischen Städten gegen den Krieg demonstriert haben und die nun in Gefängnissen sitzen. Vielleicht verlieren sie ihr Leben – ob um Christi und des Evangeliums willen, wissen wir nicht. Aber sie nehmen keinen Schaden an ihrer Seele, weil sie sich nicht von Putins Lügen haben einlullen lassen, weil sie nicht blind und taub geworden sind für das Leid anderer, weil sie sich vielmehr für ihre Überzeugung, nämlich für Recht und Gerechtigkeit, für Frieden und Freiheit engagiert haben.
Zu einer so entschlossenen und mutigen Nachfolge sind sicher die wenigsten unter uns fähig. Davor haben wir vermutlich alle – auch ich – viel zu große Angst. Ich bin darum meinem Gott zutiefst dankbar, dass ich diese Predigt halten kann ohne befürchten zu müssen, deshalb morgen von der Polizei verhört zu werden. Für uns, die wir feiger sind als andere, sollte Nachfolge daher zumindest Demut und Dankbarkeit bedeuten. Zur Demut gehört das ehrliche Schuldeingeständnis, dass wir Angst haben und dass unsere Angst uns blind werden lässt, so dass wir das Leid anderer aus unserem Leben und aus unseren Gedanken ausblenden. Zur Demut gehört die Betroffenheit darüber, dass wir als Christen in der Nachfolge Jesu sogar im Gebet nachlässig geworden sind. Unsere Angst ist nachvollziehbar und verständlich, aber kein Gebet wird uns das Leben kosten oder uns unserer Freiheit berauben. Wenn wir das Gebet vergessen, zeigen wir vielmehr, dass wir die Menschen und ihr Leid vergessen. Oder dass wir es nicht aushalten, überhaupt an sie zu denken.
In dieser Vergesslichkeit und mangelnden Demut vergessen wir ebenso die Dankbarkeit. Ältere Menschen, die den Krieg erlebt haben, erzählen mir, dass sie Gott jeden Abend danken, weil sie wieder einen Tag in Frieden und Freiheit erleben durften. Tun wir Jüngeren das auch? Oder hat uns die erlebte Selbstverständlichkeit dieser hohen Güter gedankenlos gemacht? Gedankenlos und darum zugleich undankbar. Denn Dank ist nichts anderes als das Denken an Gott und an das Gute, das wir unverdient erleben. - Was hilft es dem Menschen, die ganze Welt zu gewinnen und Schaden zu nehmen an seiner Seele? Was kann der Mensch geben, womit er seine Seele auslöse?
Ja, was hilft es uns, wenn wir auch in diesem Sommer ungerührt nach Mallorca fliegen? Sicher wird es da schön sein, Mallorca liegt ja nicht am Schwarzen Meer. Und natürlich müssen wir jetzt nicht auf jede Freude verzichten, auch im Krieg dürfen wir Geburtstage feiern und Freunde treffen, wenn die pandemische Lage das in den Sommermonaten wieder gefahrlos zulässt. Das verbietet auch Jesus nicht, der selbst gern mit seinen Jüngerinnen und Jüngern gegessen und getrunken hat. Aber in unserem Predigtwort weist er uns darauf hin, dass wir einmal vor dem Richterstuhl Gottes stehen werden: Wer sich meiner und meiner Worte schämt, dessen wird sich auch der Menschensohn schämen, wenn er kommen wird in der Herrlichkeit seines Vaters mit den heiligen Engeln. – Was wird es uns helfen, wenn wir hier auf der Erde zwar gut und fröhlich gelebt haben, wenn unsere Seele aber Schaden genommen hat, weil wir schuldig geworden sind am Leid anderer?
Schuldig nicht durch böse Taten! Für solche haben sich Putin, Assad und andere zu verantworten. Wohl aber schuldig durch fehlende Demut und Dankbarkeit. Schuldig durch unsere Angst und Hilflosigkeit, die uns gedankenlos werden lässt. Nachfolge muss für uns darum mindestens zweierlei bedeuten: Das Gebet und die Bereitschaft zum Verzicht. Die Sanktionen werden Folgen für uns haben. Aber das darf uns nicht kopflos machen. Auch wenn ich mir diese Kreuzfahrt oder jenes Auto in den kommenden Jahren nicht leisten kann, wird es mir doch immer noch viel besser gehen als den Menschen in Kiew und im Donbass. Besser als den Millionen Flüchtlingen weltweit. Besser als allen, die in einer Diktatur leben oder die in Gefängnissen gefoltert werden. Das muss uns auch großzügig machen gegenüber all den Menschen, die jetzt aus der Ukraine flüchten. Irgendwo in Europa müssen sie freundliche Aufnahme und eine Wohnung finden, ob übergangsweise oder dauerhaft, wissen wir noch nicht. Auch das wird Geld kosten.
Wir werden darum sicher auf manches verzichten müssen, woran wir uns gewöhnt haben. Dennoch werden wir weiterhin eines der Länder mit der höchsten Lebensqualität überhaupt sein. Das allein sollte uns demütig und dankbar machen. Und dazu ist es wichtig, dass wir als Christen nicht aufhören zu beten. Denn im Gebet zeigen wir den Menschen in der Ukraine, dass ihr Leid uns nahegeht und dass wir an sie denken. Im Gebet offenbaren wir unsere Angst und bringen wir unsere Hilflosigkeit vor Gott. Im Gebet drängen wir Gott, dass er helfen und böse Menschen zu Einsicht und Umkehr bewegen möchte. Im Gebet bitten wir auch für diejenigen, die mutiger sind als wir selbst, dass Gott ihnen Kraft schenken und sie bewahren möge.
Im Gebet bitten wir um die Hilfe Gottes zum Frieden – so wie wir es gleich singen werden:
Gib Frieden, Herr, wir bitten! Du selbst bist, was uns fehlt.
Du hast für uns gelitten, hast unsern Streit erwählt,
damit wir leben könnten, in Ängsten und doch frei,
und jedem Freude gönnten, wie feind er uns auch sei.
Gib Frieden, Herr, gib Frieden: Denn trotzig und verzagt
hat sich das Herz geschieden von dem, was Liebe sagt!
Gib Mut zum Händereichen, zur Rede, die nicht lügt,
und mach aus uns ein Zeichen dafür, dass Friede siegt.
Amen.